Opfer des Aufschwungs

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Opfer des Aufschwungs

Der Arbeitsmarkt boomt. Immer mehr Arbeitslose verlieren ihren Job - wie Andi G.

VON MARK-STEFAN TIETZ

Herausgerissen aus dem Nichtstun: Fensterputzer in der Reichstagskuppel.

Mit Grauen erinnert sich Andi G. an den Mittag, der sein Leben aus der Bahn warf: "Der Personalchef rief mich in sein Büro, drückte mir kalt lächelnd einen Füller in die Hand", schluchzt der 37-Jährige. "Ich verstand gar nicht, was er von mir wollte, ich war total übermüdet. Doch auf dem Schreibtisch lag schon der Arbeitsvertrag."

So wie Andi G. geht es vielen, seit die Arbeitslosigkeit in diesem Land verschwindet. 600.000 weniger Arbeitslose als vor einem Jahr - es ist nur eine Zahl, aber dahinter stehen 600.000 Einzelschicksale: Menschen, deren mühsam aufgebaute Existenz mit einem einzigen Federstrich vernichtet wird, einem Federstrich von eigener Hand, dessen Konsequenzen sie überhaupt nicht überschauen können.

Auch Andi G. erkennt erst am Tag des Arbeitsantritts, dass er mit einem Mal vor dem Nichts steht: morgens um viertel nach sechs, als der Wecker klingelt. Doch das ist erst der Anfang, es kommt noch schlimmer: Nach neun entsetzlichen Stunden, in denen er eine Fensterscheibe nach der anderen putzen muss, fällt er abends gerädert in sein Bett, kann kaum schlafen vor lauter quälender Zukunftsangst. Wird das jetzt immer so weitergehen: Glasfassade für Glasfassade, Monat für Monat, Jahr für Jahr ? Augenblicklich fühlt sich Andi G. wertlos.

Aus Scham verschweigt er sogar guten Freunden, was ihn morgens aus dem Haus treibt: "Ich hab mich mit meiner Münzspielsucht herausgeredet, hin und wieder sogar von zehnstündigen Puffbesuchen erzählt." Alles erscheint ihm besser als die Wahrheit. Und die lautet: Erstmals im Leben geht er regelmäßig zur Arbeit, lässt sich ausbeuten, führt ein fremdbestimmtes Leben.

Bereits nach der ersten Arbeitswoche fällt er in ein tiefes Loch: Die Kanalisation vor dem Haus wird repariert, die ungesicherte Baustelle ist in der Morgendämmerung kaum zu erkennen.

Zwar kommt er mit dem Schrecken davon; bald jedoch ist er von allen seinen Freunden isoliert. Sie lassen es weiterhin Tag und Nacht krachen, mokieren sich über seinen Rückzug von allen gesellschaftlichen Verpflichtungen und nehmen auf seine Arbeitszeiten und Schlafbedürfnisse keine Rücksicht. "Die Isolation ist furchtbar", flüstert Andi G., schaut befremdet auf seine schwieligen Hände und zupft nervös die aufgeweichte Haut von seinen Fingerkuppen. "Am schlimmsten aber ist die Sinnlosigkeit: Du wischst eine Fensterfront, und eine Woche später ist sie wieder dreckig."

Schwer zu schaffen macht ihm auch der Alkohol- und Kohlehydratentzug: "In der Kantine gibt es immer nur ausgewogene Mahlzeiten, frisches Gemüse, Putenbrust. Und wenn alle um dich herum Mineralwasser trinken, wirst du irgendwann schwach und trinkst mit."

Die tiefe Hoffnungslosigkeit, die ihn ergreift, wächst sich bald zu einer Depression aus. Er klagt über Rückenschmerzen, Unwohlsein, einen ständig klaren Kopf: "Diese endlose Leere und Verzweiflung - ich verbringe ganze Tage damit, nur durch Fensterscheiben zu starren. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mich vor den nächsten Zug zu werfen. Aber wann?! Seit ich arbeiten gehe, habe ich ja für nichts mehr Zeit."

Freude leuchtet in seinem Gesicht lediglich auf, wenn er von früher erzählt: "Ich war integriert, mein Job als Arbeitsloser gab mir Halt und meinem Tag eine Struktur: Aufstehen um halb eins, ein paar Bier aus dem Kühlschrank holen, das Nachtprogramm von RTL II zu Ende gucken."

Tagsüber dann Besuche bei Freunden, Verwandten und dem Kiosk, daneben 1.000 Hobbys, darunter das abwechslungsreiche Fernsehprogramm, die DVDs, die Playstation - doch das ist alles lange vorbei. Kein Wunder, dass sich der Ex-Arbeitslose seiner Resignation ergeben hat und zusehends an sich selber zweifelt:

"Ich frag mich immer: Warum ausgerechnet ich? Es ist ja nicht so, als ob es überhaupt keine anderen Arbeitslosen mehr gäbe." Das stimmt zwar - noch. Doch das Bedrohungsgefühl wächst auch unter denen, die weiterhin auf den Bänken im Park oder in der Einkaufszone hocken. Sie alle kennen jemanden, den es erwischt hat, und fürchten sich, ebenso zu enden.

Und auch langjährige Arbeitsplatzbesitzer leiden unter dem Rückgang der Arbeitslosigkeit: Ihr Arbeitsplatz erscheint ihnen nichts mehr wert, seit fast jeder einen hat. Sie arbeiten automatisch schludriger, machen montags öfters mal blau oder kündigen an, einen Betriebsrat zu gründen - alles nur, um ihren Rauswurf zu provozieren. Doch ihre Hoffnung ist meist umsonst. So schnell lässt man heute keinen mehr gehen. Das weiß auch Andi G., selbst wenn er in letzter Zeit immer wieder denselben Traum hat:

"Wenn ich noch mal ganz von vorne beginnen könnte... ", sagt er heiser, mit grauem, eingefallenen Gesicht. "Ein komplett vertrödelter Nachmittag am Fluss, mit einer Zweiliterbombe Rotwein... Aber das wird für mich wohl für immer ein Traum bleiben."
 
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